Alex Broimos: "The Hungarian Parliament from the Danube" Some rights reserved. www.piqs.de |
Joachim
Gauck hielt erst kürzlich seine Grundsatzrede zur Europäischen
Union. Was seine Rede von anderen europapolitischen Reden
jüngeren Datums unterscheidet, ist der gesellschaftspolitische Fokus
statt der Behandlung wirtschaftspolitischer Themen. Dass er eine
Vertrauenskrise der EU feststellt und Reformen verlangt ist gut aber
nichts ungewöhnliches für deutsche Politiker. Wie viele andere,
predigt er eine europäische Identität, welche auf dem gemeinsamen
Wertekanon aufbauen solle. Wörtlich sagt er: "Unsere
europäische Wertegemeinschaft will ein Raum von Freiheit und
Toleranz sein."
Doch
sieht man sich die Realität an, so muss man lange einen solchen
Wertekanon suchen. Im Fall Ungarn gibt es eines der krassesten
Beispiele, das dem Auffinden im Weg steht. Die meisten EU-Politiker
beschäftigen sich ungern mit dem Fall. Bei den ursprünglichen
Reformen Orbans bezeichneten sie die meisten Elemente sogar als
legitim. Selbst das umstrittene Mediengesetz konnte umgesetzt werden.
Auch ein neues Grundgesetz konnte verabschiedet werden und die alte
Verfassung von 1989 ablösen. In der neuen werden Grundrechte zwar
festgehalten, aber auch die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt. Nun
plant Orban eine erneute Verfassungsänderung. Anlass ist eine
aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, welches das
geplante Wahlrecht für illegitim einstufte. Mit der neuen Verfassung
soll das Verfassungsgericht künftig nur noch formale statt
inhaltliche Überprüfungen vornehmen. Zusätzlich wird die
Verletzung der "Würde der ungarischen Nation" als
Tatbestand aufgewertet.
Dass in Ungarn die demokratische Ordnung zerstört wird ist harte Realität. Doch gibt es dazu keine Reden oder Kommentare. Stattdessen wird sich in Floskeln wie "Mehr Europa" oder die einer "europäischen Identität" geflüchtet. Dass die europäische Politik mittlerweile ein parteipolitisches und -taktisches Geschachere ist, muss nichts schlimmes sein. Grundsätzliche Kritik an der Politik von Parteikollegen darf dies aber nicht ausschließen (Orban, Merkel und Barroso sind alle Mitglieder der EVP). Vielleicht braucht es eines Bundespräsidenten, welcher sich aus der Tagespolitik raushalten kann, um solche Verhältnisse wie in Ungarn zu kritisieren. Seine erste europapolitische Grundsatzrede kann hierfür den Anfang bilden, war aber noch nichts Mutiges. Ob Gaucks weiteres Engagement mutig sein wird, wird sich zeigen. Der Fall Ungarn ist nur eine Hürde beim Finden eines europäischen Wertekanons.