»To ask the government for help is like trusting a drunk to do surgery on your brain.«
(Lasha Bendukidze, Urheber der georgischen Wirtschaftsreformen)
Diese Wochen waren Parlamentswahlen in Georgien. Mit 53,0 Prozent gewann das erst im April gegründete Oppositionsbündnis "Georgischer Traum" des Milliardärs Bidsina Iwanischwili. Verloren hat der amtierende Staatschef Michail Saakaschwili, welcher noch am Abend seine Niederlage eingestand. Als Staatspräsident wird er bis zum Ende seiner zweiten Amtszeit 2013 mit der neuen Mehrheit kooperieren müssen. O-Ton der Berichterstattung hierzulande: für eine ehemalige Sowjetrepublik verlief der demokratische Machtwechsel überraschend unproblematisch.
Was für viele noch überraschender sein mag: 20 Jahre nach dem Ende des real existierenden Sozialismus ist in Georgien Ideologie wieder zu einem Problem geworden - diesmal von der anderen Seite. Wichtige wirtschaftspolitische Entscheidungen werden gemäß der radikalen Strömung des Libertarismus entschieden.
Vertreter dieser Schule lehnen Eingriffe in die Wirtschaft und die Bereitstellung öffentlicher Güter wie Bildung und Gesundheit durch den Staat ab. Sie möchten möglichst viele gesellschaftlichen Bereiche der Eigenverantwortung des Einzelnen überlassen, bzw. dem Gesetz des Marktes übergeben. Die Bereitstellung durch den Staat ist für sie ein totalitäres, entmündigendes und ineffizientes Übel.
Das in der Überschrift genannte Zitat kann stellvertretend für den politischen Narrativ genannt werden. Dessen Grundlage bildet der Mythos von der "Rosenrevolution" von 2003, mit welcher alle bisher
umgesetzten Maßnahmen als Teil der Modernisierung und Europäisierung Georgiens
gelabelt werden. Um solche Deutungen zu konstruieren, schuf sich die
Regierung Saakaschwilis einen ideologischen Überbau mit dem
Libertarismus im Zentrum. Georgien wird dabei als Vorbild für die anderen kaukasischen Länder bezeichnet, welches aufgrund eben jener Reformen wirtschaftlich prosperieren wird. Wie abstrakt manche öffentlichen Statements sind, zeigt sich angesichts der Nennung von Singapur oder Hongkong als Vorbilder. Relativ bald will man zudem mit Dubai gleichziehen
Angefangen hat es mit den ersten marktwirtschaftlichen Strukturanpassungen, Liberalisierungen und Privatisierungen. Georgien entwickelte sich zum attraktiven Invesitionsstandort; von 2004 bis 2008 verdoppelten sich die ausländischen Direktinvestitionen und das Land konnte zeitweise zweistellige Wachstumsraten vorweisen. Doch anstatt weitere Liberalisierungs- und Privatisierungsprozesse mit einem regulatorischen Rahmen zu lenken, wurde diese scheinbar zum Selbstzweck, an dem auch festgehalten wurde als die Bedürfnisse von Wirtschaft und Gesellschaft andere waren.
Ganz im Geiste des Libertarismus wurden weitere Reformen wie die Abschafffung der Wettbewerbsaufsicht und anderer Aufsichtsbehörden umgesetzt. Ein Antimonopolgesetz wurde aufgehoben, obwohl sowohl der Arzneimittelmarkt als auch der Energiesektor von Monopolisten beherrscht werden. Mit einem rein beratenden Mandat kann die 2005 neu geschaffene Freihandels- und Wettbewerbsbehörde nichts dagegen ausrichten.
Ein 2006 verabschiedetes Arbeitsgesetz, welches als eines der arbeitnehmerfeindlichsten Gesetze der Welt gilt, setzte den Abbau von Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechten durch. Punkte sind unter anderem die grundlose und sofortige Kündigung von Arbeitnehmern, das legale Ignorieren von Arbeitnehmervertretern und das Verbot von Solidaritätsstreiks. Illegales Streiken kann nun sogar mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet werden. Der georgische Gewerkschaftsdachverband beklagt den Verlust von 20.000 Mitgliedern, welche er auf Einschüchterungen durch das neue Arbeitsgesetz zurückführt. Die Deregulierungen gingen so weit, dass Georgien mit der Europäischen Sozialcharta und den ILO-Kernarbeitsnormen und Sozialstandards in Konflikt kam. Eine georgische Arbeitsmarktpolitik gibt es nicht einmal.
Es zeigt sich schon, dass die libertäre Wirtschaftspolitik von Saakaschwili die Annäherung an Europa unterwandert. Doch selbstbewusst behauptete dieser noch 2010, dass sich Europa durch die Wirtschaftskrise auf Georgien zubewegen werde. Die georgische Realität ist eine andere: Seit der Einführung des Arbeitsgesetzes und der Abschaffung des Kündigungsschutzes stieg die Arbeitslosenquote in Georgien von 13,6 auf 16,9%. Erfolge kann er mit seinen angestoßenen Reformen also nicht verbuchen.
Auch in demokratischer Sicht haben seine Wirtschaftsreformen erhebliche Auswirkungen. Ein solch libertäres Experiment geht nur mit einem nicht-partizipativen und nicht-konsultativen Regierungsstil. Ohne grundlegende soziale Rechte, können Bürger ihre politischen Bürgerrechte nur eingeschränkt wahrnehmen. Angesichts der fehlenden Arbeitnehmerrechte können selbst Journalisten nicht frei arbeiten. Unliebsame Journalisten können ohne Nennung von Gründen fristlos entlassen werden. Tatsächlich wird Georgien seit Jahren für einen Mangel an Medien- und Meinungsfreiheit gerügt. Seine Position nutzte Saakaschwili vor allem für den Machtausbau. Angesichts der Durchsetzung einschneidender Reformen kommt dies gelegen. Werden Interessensgruppen klein gehalten, so muss sich die Politik schon nicht ihr Programm verwässern lassen. Nur so kann das Vorgehen gegen die Gewerkschaften und einzelne Aktivisten erklärt werden. Sie ist die einzig ernsthafte Opposition; die politische Opposition stellte keine Gefahr dar.
Dass der "neue" Politiker Iwanischwili die Opposition einen konnte, ließ sich für Saakaschwili nicht vorhersehen. Eventuell wird er es zum Staatspräsidenten schaffen und Saakaschwili ablösen. Die gleiche Machtfülle wird er aber nicht haben. Bereits 2010 wurde eine Verfassungsreform verabschiedet, welche das Amt des Präsidenten schwächen und jenes des Premierministers stärken wird. Sie tritt 2013 in Kraft, wenn auch Saakaschwili´s zweite Amtszeit enden wird. Sollte er danach Premierminister werden, so kann man sich auf einen spannenden Schlagabtausch vorbereiten. Ob das den drängenden Probleme in Wirtschaft und Politik zugute kommt, kann bezweifelt werden.
Manuel